Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) hält den gesetzlichen Zinssatz von 6 % p.a. für sog. Aussetzungszinsen für verfassungswidrig. Er hat daher das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) angerufen.
Einspruch und Klage haben im Steuerrecht grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung, d.h. die Erhebung einer Abgabe wird nicht aufgehalten und der Steuerpflichtige muss die festgesetzte Steuer zunächst zahlen. Die aufschiebende Wirkung von Einspruch und Klage kann aber in einem summarischen Verfahren auf Antrag bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheids von Finanzamt oder Finanzgericht gesondert durch die Aussetzung der Vollziehung (AdV) angeordnet werden. Für den Steuerpflichtigen bedeutet das einerseits, dass er die Steuer zunächst nicht zahlen muss. Andererseits droht ihm eine Belastung mit Zinsen, wenn sein Rechtsmittel endgültig ohne Erfolg bleibt und er die Steuer »nachträglich« zahlen muss. Er hat dann nämlich für die Dauer der AdV und in Höhe des ausgesetzten Steuerbetrags Zinsen in Höhe von einhalb Prozent pro Monat, also 6 % pro Jahr zu entrichten (Aussetzungszinsen, § 237 i.V.m. 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung –AO–).
Mit Beschluss vom 08.07.2021 – 1 BvR 2237/14 (BVerfGE 158, 282) hat das BVerfG die Vollverzinsung in dieser Höhe (§ 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO) ab dem 01.01.2014 für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 GG erklärt, dies aber nicht auf die Aussetzungszinsen und andere Teilverzinsungstatbestände erstreckt.
Im Streitfall hatte der Kläger seinen Einkommensteuerbescheid 2012 angefochten. Dessen Vollziehung setzte das FA aus. Die Klage war erfolglos. Aussetzungszinsen von einhalb Prozent wurden für 78 Monate festgesetzt, u.a. für den Zeitraum von 01.01.2019 bis zum 15.04.2021. Der Kläger wandte sich gegen die Zinsfestsetzung.
Nach Auffassung des BFH ist ein Zinssatz für die Zinsen bei AdV in Höhe von einhalb Prozent pro Monat, also 6 % p.a. gemäß § 237 i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO im Zeitraum vom 01.01.2019 bis zum 15.04.2021 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Zumindest während einer anhaltenden strukturellen Niedrigzinsphase ist der gesetzliche Zinssatz der Höhe nach evident nicht (mehr) erforderlich, um den durch eine spätere Zahlung typischerweise erzielbaren Liquiditätsvorteil abzuschöpfen.
Zudem werden Steuerpflichtige, die Zinsen schulden, weil sie die Steuer nach AdV nicht bezahlt haben, und Steuerpflichtige, die Nachzahlungszinsen entrichten müssen, weil ihre Steuerfestsetzung zu einem Unterschiedsbetrag (§ 233a Abs. 3 AO) geführt hat und sie die materiell-rechtlich von Anfang an geschuldete Steuer deshalb erst später zahlen müssen, ungleich behandelt. Denn Nachzahlungszinsen werden seit dem 01.01.2019 lediglich mit einem Zinssatz von 0,15 Prozent für jeden Monat, also 1,8 % p.a. berechnet. Auch diese Zinssatzspreizung ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.
BFH, Pressemitteilung vom 22.08.2024 zu Beschluss vom 08.05.2024, VIII R 9/23