Rückstellungen – ungewisse Verbindlichkeiten – tatsächliche Inanspruchnahme
§ 249 HGB
§ 5 EStG
R 5.7 EStR
1. Allgemeines
Für die Bildung von Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten nach § 249 HGB, § 5 EStG und R 5.7 EStR ist es u.a. erforderlich, dass mit einer tatsächlichen Inanspruchnahme ernsthaft gerechnet werden muss (ständige BFH-Rechtsprechung).
2. Steuerliche Zulässigkeit der Bildung einer Rückstellung
Eine geeignete Vorgehensweise bei der Prüfung, ob mit einer tatsächlichen Inanspruchnahme ernsthaft gerechnet werden muss, soll anhand des folgenden Beispiels erläutert werden:
Beispiel:
Ein Industrieunternehmen (Mieter) ist gegenüber einem Hafenbetrieb (Vermieter) vertraglich verpflichtet, nach Ablauf der Pachtzeit die baulichen Anlagen (Hallen, Verwaltungsgebäude, Betriebsvorrichtungen) zurückzubauen.
Aus den Mietverträgen ergibt sich allerdings keine bedingungslose Rückbauverpflichtung. Es existiert eine Klausel, nach der zum Ablauf der Mietzeit der Mieter dem Vermieter die entgeltliche Übernahme etwaiger baulicher Veränderungen anbieten muss. Erst wenn der Vermieter diese ablehnen sollte, wäre der Mieter zum Rückbau verpflichtet.
Es ist unstrittig, dass bei einer bedingungslosen Rückbauverpflichtung die Bildung einer Rückstellung zulässig ist, wenn sie hinreichend konkretisiert ist.
Im vorliegenden Fall besteht zunächst lediglich die vertragliche Verpflichtung zur Unterbreitung des Angebots an den Vermieter. Ob es danach zu einer Rückbauverpflichtung des Mieters kommen wird, ist offen. Denkbar ist neben der Ablehnung des Angebots auch die Annahme des Angebots oder eine in beiderseitigem Interesse stehende Verlängerung oder Neuregelung des Mietverhältnisses mit der Weiternutzung der baulichen Anlagen.
Die Abbauverpflichtung unterläge somit der aufschiebenden Bedingung, dass der Vermieter sich entscheiden wird, die Übernahme der baulichen Veränderungen abzulehnen. Das Vorliegen einer aufschiebend bedingten Last spricht allerdings nicht gegen die Rückstellungsbildung, da für die Bildung einer Rückstellung lediglich die Ungewissheit einer Verbindlichkeit erforderlich ist. Eine Verbindlichkeit ist also grundsätzlich auch rückstellungsfähig, wenn sie aufschiebend bedingt ist und es ungewiss ist, ob die Bedingung eintritt.
Zu erörtern ist, ob mit der Inanspruchnahme der Rückstellung ernsthaft zu rechnen ist:
2.1 Konkretisierung
Zur Prüfung des Vorliegens einer hinreichenden Konkretisierung ist die Unterscheidung vorzunehmen, ob es sich um eine
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öffentlich-rechtliche oder
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eine zivilrechtliche Verpflichtung
handelt.
Eine hinreichende Konkretisierung der Inanspruchnahme ist nach der Rechtsprechung nur bei einer öffentlich-rechtlichen Verpflichtung erforderlich.
So darf eine Rückstellung für die öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur Beseitigung von Umweltschäden (z.B. Altlastensanierung) erst gebildet werden, wenn die die Verpflichtung begründenden Tatsachen der zuständigen Fachbehörde bekannt geworden sind oder dies doch unmittelbar bevorsteht (BFH, 19.10.1993 – VIII R 14/92, BStBl II 1993, 891).
Eine hinreichende Konkretisierung einer Abbruch(Abbau)verpflichtung wird somit nur für die Bildung einer Rückstellung bei einer einseitigen öffentlich-rechtlichen Verpflichtung verlangt (BFH, 19.10.1993 – VIII R 14/92, BStBl II 1993, 891). Wegen einer zivilrechtlich begründeten Verpflichtung des Pächters zur Entfernung oder zum Abbruch eines von ihm auf dem Grund und Boden des Verpächters errichteten Bauwerks ist eine Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten auch bereits dann zu bilden, wenn ungewiss ist, zu welchem Zeitpunkt das Nutzungsverhältnis enden wird (BFH, 28.03.2000 – VIII R 13/99, BStBl II 2000, 612).
Der Betreiber eines Flusswasserkraftwerks kann für die öffentlich-rechtliche Verpflichtung, Uferschutzarbeiten durchzuführen und den Stauraum zu entschlammen, keine Rückstellungen bilden, bevor die Arbeiten tatsächlich erforderlich werden. Ebenso darf eine Rückstellung für eine öffentlich rechtliche Entfernungsverpflichtung nicht gebildet werden, wenn es an der gebotenen Konkretisierung und der hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme fehlt (BFH, 12.12.1991 – IV R 28/91, BStBl II 1992, 600).
Eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung kann Gegenstand einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten sein, wenn die Verpflichtung nach ihrem Inhalt und insbesondere ihrem Entstehungszeitpunkt hinreichend konkretisiert ist, d.h. wenn die Verpflichtung unmittelbar auf dem Gesetz oder einem besonderen Verwaltungsakt beruht (BFH, 19.05.1983 – IV R 205/79, BStBl II 1983, 670).
Bei privatrechtlichen Verpflichtungen hingegen ist nach h.M. der Literatur regelmäßig anzunehmen, dass eine Inanspruchnahme erfolgen wird. Eine Inanspruchnahme des Schuldners aus einem Vertrag sei stets wahrscheinlich, denn es sei nicht zu erwarten, dass der Gläubiger auf seine Rechte verzichten werde.
Im Rahmen der Rechtsprechung geht das FG Düsseldorf (23.11.2004 – 6 K 293/02, DStRE 2006, 449) sogar soweit, die Rückstellung nur dann nicht anzuerkennen, wenn aufgrund konkreter Umstände des Einzelfalls ausnahmsweise nicht damit zu rechnen ist, dass eine Inanspruchnahme erfolgen wird. In der Urteilsbegründung wird ausgeführt, dass in der Rechtsprechung anerkannt sei, dass das Bestehen einer privatrechtlichen (Außen-)Verpflichtung grundsätzlich den Schluss zulasse, dass eine Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme aus dieser Verpflichtung bestehe.
2.2 Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme
In der Literatur wird teilweise unter Berücksichtigung des Vorsichtsprinzips handelsrechtlich bereits eine Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme von mehr 25 % als ausreichend angesehen.
Dieser Auffassung steht allerdings die Auffassung der Finanzverwaltung (R 5.7 Abs. 6 EStR) entgegen, nach der es für die Rückstellungsbildung erforderlich ist, dass mehr Gründe für als gegen die Inanspruchnahme sprechen müssen.
Ob diese engere Auslegung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs durch die Finanzverwaltung zu einer Durchbrechung des Maßgeblichkeitsgrundsatzes (Übernahme handelsrechtlich zulässigerweise gebildeter Rückstellungen in die Steuerbilanz) führt, ist in der Rechtsprechung und der einschlägigen Literatur nicht abschließend geklärt und erscheint daher fraglich.
Es ist mithin sinnvoll, der Beurteilung dieser Frage eine weitere Überlegung zugrunde zu legen:
Welche Gründe sprechen dafür oder dagegen, dass ein fiktiver Erwerber des ganzen Unternehmens die Verpflichtung in sein Kaufpreiskalkül einbeziehen würde?
Gründe, die im o.g. Beispielsfall gegen eine Relevanz der Verpflichtung (Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme) sprechen könnten:
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Der Hafenbetrieb könnte aufgrund eines geeigneten Nachpächters die Aufbauten übernehmen und mit dem Restwert vergüten, insbesondere dann, wenn sich die Aufbauten in einem guten Zustand befinden.
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Es könnte in beiderseitigem Interesse sein, nach Ablauf der Mietzeit einen neuen Mietvertrag abzuschließen, in dem die Aufbauten bestehen bleiben können.
Einzuschätzen wäre also auch die Wahrscheinlichkeit, ob das Industrieunternehmen den Standort nach Ablauf des Mietvertrages weiter betreiben wird (Strategische Bedeutung des Standorts, Investitionen in die Anlagen usw.).
Gründe, die im o.g. Beispielsfall für eine Relevanz der Verpflichtung (Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme) sprechen könnten:
Es könnte unwahrscheinlich sein, dass der Hafenbetrieb die Aufbauten übernimmt, weil
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die Aufbauten veraltet und marode sind und nicht renoviert wurden;
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die Eigentümer des Hafens begonnen haben, den Hafen konzeptionell umzugestalten und alte Industriegebäude abreißen zu lassen und durch Wohngebäude zu ersetzen. Andererseits könnte ein guter Zustand der Industriegebäude auch dafür sprechen, diese mit zu übernehmen, um sie entsprechend in Wohnbebauung umzufunktionieren.
Die Abwägung aller Umstände sollte dann zu einem Ergebnis führen, das in dem jeweiligen Einzelfall für oder gegen die Annahme einer Verpflichtung spricht.